Projektträger ist die deutsch-italienische Kulturvereinigung Amici dell' Aquila

Samstag, 17. September 2011

Fünfter Bericht des Stadtbotschafters

Fünfter kurzer Bericht des Stadtbotschafters aus L'Aquila 17.9.2011

Nach den Festtagen der Perdonanza, nach vielen Gesprächen, Treffen und Besichtigungen hat der Stadtbotschafter mit seiner Frau ein paar Tage Urlaub gemacht.
Das ist allerdings auch Arbeit gewesen im Sinne des Grundtvig Projektes für Freiwillige '50+'. Die Einladung in das Bergdorf St. Stefano di Sessanio zur Ehrung des russischen Theater- und Opernregisseurs Jurij Ljubimov geriet zu einem Lehrstück italienischer Geschichte, Kultur und Lebensweise.
Das uralte Dorf, früher Besitz der Familie Medici aus Florenz, ist vor einigen Jahren vom italienisch-schwedischen Nachkommen eines Zementkonzerns zu Teilen aufgekauft und restauriert worden. So wie die Medici einen wichtigen Teil ihres Reichtums aus dem Dorf bezogen haben, so ist jetzt zur Rettung des Lebens des schwindenden Dorfs  Geld investiert worden - mit großem Erfolg. Reizende Pensionen sind in den mittelalterlichen Gemäuern entstanden, Trattorien und Bars laden zum Verweilen ein und - aus geschichtlicher Verbundenheit  gab es in diesem Sommer eine Ausstellung von Gemälden aus den Magazinen der Florentiner Uffizien-Galerien. Ein krasser Gegensatz, das einfache, in mühseliger Arbeit entstandene Dorf auf 1250 m Höhe und etwa ein Porträt des Rennaisance-Papstes Sixtus VI in seiner stolzen Pracht.
 Wanderungen im Gran Sasso, höchste Erhebung der Appenninen der Corno Grande mit 2912 m Höhe, widerlegten das deutsche Vorurteil, die Italiener würden nicht wandern: Zu Hauf waren sie unterwegs! Jedenfalls am Sonntag, dem letzten Ferientag,bei toller Sicht und angenehmen Temperaturen in der Höhe. Dies Gebiet vor der Haustür L'Aquilas ist so etwas wie ein Nationalheiligtum. Ganz sicher nicht, weil im 'höchsten Gefängnis der Welt' (Zitat Mussolini) 1943 der abgestzte Duce für ein paar Tage festgesetzt war!  Der Corno Grande leuchtet immer wieder durch die Gassen der Stadt. Auch vom Frühstücksplatz der Botschaft in Onna, also tief unten aus dem Aerno-Tal, ist er gut zu beobachten im nachmittäglichen Wechsel des Sonnenlichts.

Viele Gespräche drehen sich selbstverständlich um das Erdbeben vom 6. April 2009 und seine Folgen. Jeder hat anderes erlebt. Und jeder hat seine Meinung zum anstehenden aber noch immer ausbleibenden Wiederaufbau. Kann man auf der einen Seite von Planern und Ingenieuren hören, wie unermesslich groß die Aufgabe ist, nicht einfach ein Haus nach dem anderen zu flicken, sondern wieder eine schöne Stadt, ein ansprechendes Dorf zu schaffen, so sehen dies die direkt Betroffenen doch meistens anders.
Versorgungsleitungen müssen neu gelegt werden, manche Gassen sind mit Baufahrzeugen nicht zu befahren, alte Nachbarzwiste sollen praktischerweise bei Gelegenheit des Aufbaus beseitigt werden, für die Zukunft ist an Isolierungsmaßnahmen bei vielen Häusern zu denken. Da beginnt man ein Verständnis für die lange Zeit zu entwickeln, die seit dem Beben vergangen ist, ohne dass die 'Roten Zonen' in den Innenstädten geöffnet wurden. Und die Bedeutung von Entscheidungen der Gremien der verschiedenen Ebenen (Nationalversammlung und Regierung, Region, Provinz, Stadt und irgendwo dazwischen oder darüber die Protezione Civile, eine Organisation, die mit unserem Technischen Hilfswerk nur wenig gemein hat) wird stark herabgesetzt, obwohl sich die Politiker zuvörderst das scheinbare Nichtstun vorwerfen lassen müssen. Dabei ist sehr viel geschehen in den vergangenen 2 1/2 Jahren. Jedes beschädigte Haus ist mit kunstvollen Konstruktionen aus Holz, Stahlträgern, Stahlseilen und Gurten gesichert worden. Bei einer großen Kirche wurde die Zahl der dort für einige Zeit beschäftigten Arbeiter auf ca. 100 geschätzt. Diese Arbeiten sind abgeschlossen wie auch die Reparaturarbeiten an einer großen Zahl von leichter beschädigten Gebäuden (Schadenskategorien A und B). Ende September wird der Gemeinderat (consiglio) von L'Aquila in der Casa Onna tagen. Dem Gesandten Däuble von der Deutschen Botschaft in Rom hat der Bürgermeister (sindaco) Cialente versprochen, dass in dieser Sitzung für den Wiederaufbau Onnas grünes Licht gegeben werden soll. Ein Masterplan, ähnlich dem Flächennutzungsplan in Deutschland, liegt vor sowie der Plan für den Wiederaufbau des in Baugruppen (aggregazioni) aufgeteilten Dorfes. Doch Eingeweihte sind sich sicher: mit der Entscheidung des consiglio rollen die Baumaschinen noch nicht, weil es natürlich auch Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Eigentümern der aggregazioni gibt. Da stehen sich dann die 'terremotati' leider selbst im Wege.
Ganz anders hört sich das Problem aus der Sicht einer Innenstadtbewohnerin an, die ihr Haus im Erdbeben verloren hat und selbst anfangen möchte mit dem Wiederaufbau. Mit 70 Jahren rechnet sie sich allerdings bei den bisherigen Erfahrungen und Prognosen nur wenige Chancen aus, nochmal an alter Stelle zu wohnen. Ihr Gebäude stammt aus dem 15. Jahrhundert, mit Innenhof und Galerien. Leider wurde von Miteigentümern auf einem Teil der Holzkonstruktion ein Betonaufbau errichtet. Der sei der Grund für die Zerstörung des Gebäudes geworden. Sie glaubt den Politikern und den Ingenieuren kein Wort. So seien die Abwasser- und anderen Leitungen funktionsfähig, wie man an einer Reihe von Hotels und Pensionen sehe, die in der Innenstadt 'Ausgebebte' beherbergen. Das Wasser fließe doch noch immer den Berg hinunter und nicht hinauf!
Eins wird man jedenfalls deutlich sagen müssen: an den Baubetrieben und einzelnen Handwerkern liegt die lange Verzögerung der Aufnahme der großen Sanierung sicher nicht. Entgegen einer Einzelmeinung aus Rottweil (s. http://www.rottweil.wordpress.com/) werden also nicht 'tüchtige Rottweiler Handwerker im Ruhestand'  hier für Fortschritt sorgen.. Was Handwerker zusammen mit Feuerwehrleuten aus dem ganzen Land  hier schon geleistet haben, spricht für sich selbst. Die Feuerwehr ist in Italien landesweit straff organisiert und war deshalb  leicht im Katastrophengebiet einzusetzen, zu organisieren und zu kommandieren. Hier ist modernes Heldentum entstanden.

Schön war es, die einsatzfreudige Gruppe von 'Salviamo Paganica!' vor und nach der Fahrt zum Stadtfest in Rottweil zu begrüßen. Den Männern hat es in Rottweil wieder so gut gefallen, dass sie ernsthaft überlegen, ob an der Fasnet in Rottweil  eine Besenwirtschaft mit Abruzzen-Spezialitäten betrieben werden kann. Ein geeigneter Raum müsste sich ja finden lassen.

In L'Aquila würde man sich sehr freuen, wenn zum Flughafenfest (Aeroporto dei Parchi, weltbekannt seit der G8-Konferenz 2009) vom 30.9. bis 2.10. auch aus Rottweil ein Flieger mit begeisterten Rottweilern kommen würde. Es gibt Überlegungen dazu. Vielleicht kann jemand Rainer Prinzing den Rücken stärken. Er würde offenbar gern fliegen! Und auch das Bier des Schwarzen Lammes wäre hochwillkommen.

Eine Kurzgeschichte der jungen Autorin Sara Maddalena Cocuzzi, prämiert  in einem Schreibwettbewerb (Erster Preis!), haben Pahlmanns gemeinsam übersetzt. 'Solitär', dreht sich um Generationenkonflikte, das Spiel Solitär und Fantasien kurz vor dem eigenen Tod und wird demnächst in Rottweil zu lesen sein.

Eine ganz neue Idee des lokalen Radiosender Radio L'Aquila Uno (RL 1) wurde gestern an den Botschafter herangetragen: Eine Kindersendung in Rottweil und L'Aquila, wo 9 bis 12jährige gegenseitig ihre Stadt vorstellen, Interviews mit wichtigen Personen führen usw. Gedacht ist der Sprachvereinfachung wegen an italienische Kinder in Rottweil. Da läge es nahe, in der Johanniterschule nachzufragen. Man muss Vertändnis dafür haben, dass dieser Sender auch eigene Interessen mit einem solchen Plan verbindet. So erwartet sich Giovacchino D'Annibale, der Chef des Senders aus der Steigerung des Bekanntheitsgrades seiner Radiostation Hilfen für den beabsichtigten Neubau in einem Vorort L'Aquilas. Derzeit befindet sich das Studio in einem Container, nachdem das Erdbeben die Räumlichkeiten in der Innenstadt 'inagibile' unbetretbar, unbenutzbar gemacht hat. Vielleicht finden sich ja spezielle Sponsoren, die Material finanzieren oder ihre Arbeitskraft einzusetzen bereit sind.

Nach mehreren Anläufen konnte kürzlich der langjährige Rottweil_Freund Carletto in seinem Haus angetroffen werden. Er betreibt seine idyllisch zwischen zwei Gewässern angesiedelte Trattoria mit deiner Frau aus gesundheitlichen Gründen nur noch auf Anmeldung. Er freute sich sehr über die Kontaktaufnahme und bot sogleich dem Botschafter für die kalte Jahreszeit ein Gästezimmer an. Erlässt alle Rottweiler herzlich grüßen, besonders seinen guten Freund 'Lupo' Stroscher mit Frau und Edda Wiedergrün. Er geht bald zur Hüftoperation ins Krankenhaus L'Aquila. Man sieht ihm dies Leiden deutlich an. Alles Gute.

So, nachdem nun wieder einige technische Probleme mit dem Laptop überwunden sind, scheint der Absendung dieses Berichts nichts im Weg zu stehen.

L'Aquila, 17. September 2011 p

Bernhard Pahlmann.

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