Projektträger ist die deutsch-italienische Kulturvereinigung Amici dell' Aquila

Montag, 9. Januar 2012

Neunter Bericht des Botschafters

L'Aquila 9. 12. 2011

Nach Berichten in Il Centro Quotidiano dell'Abruzzo, 9. Dezember 2011.

Sieben Mitglieder der regionalen Kommission für die Großen Risiken stehen in L'Aquila vor Gericht. Die Anklage lautet auf nicht weniger als fahrlässige Tötung in 309 Fällen. Der Vorwurf: die Kommission habe in der Woche vom 30. März bis 6. April 2009 unmittelbar vor dem schweren Erdbeben ihre Informationspflicht gegenüber der Bevölkerung verletzt und die Menschen ungerechtfertigt beruhigt mit der Folge, dass viele in der Nacht des Erdbebens völlig unvorbereitet in ihren Häusern schliefen, anstatt sich im Freien aufzuhalten. Dadurch sei es zu der großen Zahl von Toten gekommen.
Dreihundert Zeugen sind von Anklage und Verteidigung aufgeboten, und bisher gab es bereits zahlreiche Aussagen vor Gericht, die die Anklage stützen. Auch Stefania Pezzopane, heute Beigeordnete für Kultur in der Stadtverwaltung von L'Aquila, damals Präsidentin der Provinz L'Aquila, erinnert sich nur an die beruhigenden Wirkungen der entscheidenden Aussagen der Kommission Ende März 2009. Sie steht damit in deutlichem Gegensatz zu ihrem Bürgermeister, Massimo Cialente. Angesichts der Tatsache, dass Voraussagen über Erdbeben nicht möglich sind, fühlte er sich Anfang April ohne Orientierung, wie er am 7. Dezember zu Gerichtsprotokoll gab. Ihm machte die Lage Angst, und das hat 'mit der Kommissionssitzung noch zugenommen' zitieren die Berichte ihn wörtlich.
Pezzopane versteht ihren Bürgermeister umso weniger, als es für die Stadt L'Aquila auch um eine Entschädigung gehen könnte, wenn es zu einem Schuldspruch kommt. Dass sie damit ihre eigene Aussage als möglicherweise vom politischen Ziel beeinflusst entwertet, wird ihr aufgefallen sein. Offenbar müssen sich aber beide – Bürgermeister und ehemalige Präsidentin der Provinz – keine Gedanken darüber machen, ob sie nicht selbst hätten handeln müssen, z. B. die Bevölkerung warnen wegen der als höchst unsicher erkannten Situation.
Gegen die Kommissionsmitglieder könnte aber auch sprechen, dass der große Warner seit 2008, der Techniker Giampaolo Giuliani, dessen Radon-Theorie umstritten ist, schließlich mittels eines Strafverfahrens mundtot gemacht wurde.
Eines darf man schon jetzt feststellen: dass nämlich dieser Monsterprozess durch seine komplizierte und deshalb langwierige Suche nach Schuldigen den Fortgang der Wiederaufbauplanungen und -arbeiten nicht gerade vorantreibt.
Kommentierende Sätze:
Bernhard Pahlmann.


Die Berichte sind erst heute in den Tageszeitungen zu finden, weil gestern der vorweihnachtliche Festtag der unbefleckten Empfängnis Mariens gefeiert wurde. An diesem Tag macht der grelle Weihnachtsschmuck vor allem an den Wohnhäusern einen gewaltigen Schritt und es ist nicht mehr zu übersehen, dass Großes bevorsteht. Dass viele Geschäfte bereits Mitte November aufgerüstet haben, tut dabei nichts zur Sache.

Am Nikolaustag hatte der Botschafter wieder einmal Freunde und Interessierte zu einer großen cena  eingeladen, also zum langen unterhaltsamen italienischen Abendessen. Diesmal traf man sich in einem italienisch/tirolerischen Berggasthaus mit dem Namen 'Parkkeller' in 1000 m Höhe gelegen bei Collebrincioni, einem der Dörfer L'Aquilas. Das Essen mit seinen zahlreichen köstlichen Vorspeisen und Lammbraten war sowohl von der italienischen als auch der Tiroler Küche bestimmt. Spinatspatzerln und Semmelknödel vertrugen sich gut mit Polenta, Kichererbsen und gegrilltem Gemüse. Zur Unterhaltung gehörten auch die Übungen in der italienischen Sprache: Beschreibung der deutschen Nikolausbräuche, die hier wenig bekannt sind.
Ein kleines Ratespiel ergab sich aus der versehentlichen Überzahlung um € 50,00 und mit der Frage, ob der Wirt sich am nächsten Tag gemeldet hat, entlässt dieser Bericht die ratlosen LeserInnen. Ein Tipp:
Der Botschafter hat mit seinem derzeitigen Gast aus Tuttlingen, dessen Vater Italiener ist, gewettet. Der Gast wusste, dass der Wirt die Zuvielzahlung nicht melden würde. Voller Hoffnung blieb hingegen der Botschafter, zu dessen Aufgaben schließlich das Angehen gegen Vorurteile gehört! Wer hat die Wette gewonnen?

Der Botschafter verabschiedet sich für 2011, da er über die Feiertage den lang ersehnten Familienurlaub nehmen wird. Allen LeserInnen schöne Feiertage und uns allen ein Gutes Neues Jahr. Neben dem allgemeinen Wohl in der Welt und jetzt auch in ganz Europa steht ja schließlich für jede(n) Einzelne(n) etwas auf dem Spiel!

Bernhard Pahlmann
Botschafter der Bürger
Rottweils in L'Aquila.

Nachtrag zum neunten Bericht, 12. 12. 2011

Wie schon angenommen, sind jetzt heftige Angriffe gegen den Bürgermeister Massimo Cialente geführt  worden. Die Zeitungen sind voll von Vorwürfen, eine Vereinigung der Hinterbliebenen der 309 Erdbebenopfer will ein Strafverfahren wegen Falschaussage anstrengen. Die Frage, was denn der Bürgermeister zur Information der Bevölkerung unternommen hat, wenn er sich nicht beruhigt fühlte von den Experten der staatlichen Kommission, wird inzwischen öfters gestellt und der damals verlachte Techniker Giampaolo Giuliani reitet eine besonders bittere Attacke, nachdem man ihm 2009 vorgeworfen hatte, mit seinen Radon-Messungen ungerechtfertigte Unruhe unter der Bevölkerung zu stiften.
Cialente wehrt sich mit Nachdruck gegen die Vorwürfe, die trotz gegenteiliger Behauptung auch ein Teil des Wahlkampfes für die Bürgermeisterwahlen im Frühjahr sind: ein Gegenkandidat, Vincenzo Vittorini, Mediziner wie Cialente, sitzt bei den Pressekonferenzen seiner Vereinigung mit am Tisch und steht im Zentrum des Interesses. Er hat zwei Familienmitglieder in der Erdbebennacht verloren.

Wie vergiftet die Lage in der Partnerstadt ist, drückt eine in Rottweil gut bekannte Persönlichkeit so aus:“Jetzt hat Cialente die Bevölkerung verraten“. Kann so die Wahrheit aufgedeckt werden? Oder muss man wieder einmal zu der Erkenntnis gelangen, dass Strafgerichte kaum zur Wahrheitsfindung gemacht sind?
Es geht übrigens nicht um die Frage, ob man das Beben hätte vorhersehen können, dazu ist die Radon-Theorie zu umstritten. Lediglich die Frage steht zur Debatte, ob die Kommission zu sehr beruhigt hat. Und das wird aus dem individuellen Empfinden unterschiedlich beantwortet werden können. Wer möchte darüber richten?

Il Centro, Quotidiano dell'Abruzzo, 12.12.2011
Il Messaggero Abruzzo, 10.12.2011
Kommentar: Bernhard Pahlmann, 12,12,2011

Achter Bericht des Botschafters

L'Aquila, 30. November 2011


Eine große europäische Neuigkeit gibt es aus L'Aquila zu berichten. Il Consiglio Comunale, der Gemeinderat der Stadt L'Aquila mit seinem Präsidenten Carlo Benedetti hat am 29. November eine Sitzung in Brüssel abgehalten, um dem Antrag auf eine zona franca (Steuerfrei-Zone) für die Stadt Nachdruck zu verleihen. Da es sich beim Erlass von Steuern aber um eine Maßnahme handelt, die in den Wettbewerb eingreift, ist eine Entscheidung aus Brüssel einzuholen.

Der Antrag, der Anfang 2010 gestellt wurde, ist ewig nicht beschieden worden und wurde, wie Bürgermeister Massimo Cialente ausführte, erst im Januar 2011 zur Entscheidung vorgelegt. L'Aquila sei von Brüssel auf den Arm genommen worden.

Nun hat man aus Brüssel vor zwei Tagen, ganz vielleicht unter dem Druck der angekündigten Sitzung des Gemeinderats, vernehmen können, dass eine Entscheidung – positiv – inzwischen gefällt wurde. Da blieb Kritik an dem Ausflug nach Brüssel nicht aus. So urteilte der Vizepräsident des Regionalparlaments der Region Abruzzo, dass die Aktion des Consiglio das Zusammenwirken von Wirtschaftsminister, italienischer Botschaft, Wettbewerbskommissar Almunia und der Region Abruzzo nur störe. 'Es ist aber kein Schulausflug, was wir hier machen, sondern ein wichtiger politischer Schritt', erklärte dagegen der Bürgermeister nach der Sitzung.  Die Giunta Cialente (Stadtregierung) will jetzt schnellstmöglich erste Erleichterungen für Betriebe in L'Aquila in Rom beantragen in einer angenommenen Gesamthöhe von € 200.000,00. für drei Jahre. Man muss daran erinnern, dass nach dem Erdbeben für die Einkommenssteuer lediglich ein Aufschub gewährt wurde und die Aquilani ab Januar 2012 die Steuern für die Zeit vom Erdbeben (6. April 2009) bis 30. Juni 2010 nachträglich entrichten müssen. Kürzlich wurden hier allerdings erhebliche Erleichterungen in Rom vereinbart: Reduzierung der Steuerschuld aus dieser Zeit um 60% und Einräumung von 120 Monatsraten.

Angesichts der erstmaligen Sitzung eines europäischen Gemeinderats in der europäischen Metropole machte der Europaabgeordnete David Sassoli den Vorschlag, für die gebeutelte Stadt L'Aquila eine Dauervertretung in Brüssel einzurichten.
Für L'Aquila dürfte eine solche Repräsentanz umso leichter einzurichten sein, als hier bekanntlich offene Europäer erstmalig Erfahrungen mit einem Stadtbotschafter haben sammeln können! Sicher würde aber ein(e) Botschafter(in) der Stadt L'Aquila in Brüssel kaum auf Basis eines Freiwilligenprojektes zu finden sein.

Bernhard Pahlmann
nach Berichten der Lokalzeitungen
Il Centro
Il Messaggero
vom 30. November 2011..

Siebter Bericht des Botschafters

L'Aquila 15. November 2011 
Il Centro, Quotidiano dell'Abruzzo, 14. November 2011, redaktioneller Bericht.

Baustellen blockiert – die Stadt kommt nicht in Gang.
31 Monate nach dem Beben ist die Freizone eine Illusion und es fehlt an Arbeit.

L'AQUILA. Streitsucht und mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Parteien blockieren den Wiederaufbau. Dies ist die Ansicht des Senators Franco Marini (Demokratische Partei, Pd) über das schwierige Wiederaufblühen der Stadt. Dazu die Idee des Senators Piccone (Popolo della Libertà, PdL), ein Experte als Bürgermeister könne die Geister lösen und den Wiederaufbau beginnen lassen. Ein Vorschlag, der in L'Aquila viele 'nein' kassiert hat. Aber, wie ist der Stand der Dinge 31 Monate nach dem Erdbeben?

STEUERN. Sie waren bis letzte Woche die Hauptsorge von Bürgern und Politikern. Mit der Anordnung, unterzeichnet vom Unterstaatssekretär Gianni Letta und eingefügt in das Stabilitätsgesetz, sind die Modalitäten festgelegt worden, nach denen die Aquilani die aufgeschobenen Steuerzahlungen vom 6. April 2009 bis 30. Juni 2010 nachträglich leisten müssen. Die Summe von etwas mehr als einer Milliarde wird bei einem Nachlass von 60% ab Januar 2012 in 120 Monatsraten nachgezahlt werden. Ein Beschluss von allen Beteiligten, den Bürgermeister eingeschlossen, die beste Lösung, die man erreichen konnte angesichts des sehr schwierigen wirtschaftlichen Hintergrundes, in dem sich das ganze Land bewegt. Anders die Situation der Opfer von Erdbeben in Umbrien und den Marchen, wo erst nach Ablauf von zehn Jahren mit Nachzahlungen begonnen wurde.

HÄUSER DER KATEGORIE“E“. Für diese schwer geschädigten oder ganz zerstörten Häuser, soweit sie außerhalb der historischen Zentren stehen, hängen die großen Aufbauarbeiten ca. 1000 Tage nach dem Erdbeben sozusagen am Pfosten. Dies wird das Feld sein, auf dem die Kommunalverwaltung das nächste Gefecht auftischt. Assessore Di Stefano (zuständiger Beigeordneter für den Wiederaufbau) macht darauf aufmerksam, dass die Langwierigkeit des Wiederaufbaus an einer Reihe von Rechtsnormen und Anordnungen des (staatlichen) Kommissars für den Wiederaufbau (das ist Gianni Chiodi, der Präsident der Region Abruzzen, PdL) liegt, die sich gegenseitig widersprechen. Aber auch die ineffiziente 'Produktionskette' Fintecna – Reluis – Cineas, alle drei müssen jede Akte der Häuser der Kategorie 'E' bearbeiten, beeinträchtigt den Fortgang. Cineas und Reluis gehen außerdem Ende des Jahres von L'Aquila weg, ohne dass in der letzten Anordnung (Nr. 3978) die Möglichkeit geschaffen worden wäre, ein kommunales Büro zu eröffnen, wie von Massimo Cialente (Bürgermeister, sindaco di L'Aquila) und Di Stefano gefordert worden war. Bis heute, so die letzte Zusammenfassung der Entwicklung der Zuschussanträge, sind 8.205 Anträge eingereicht, 1.504 Zuschüsse wurden bewilligt, verbleiben also 6.665 Anträge, die noch zu bearbeiten sind: eine enorme Zahl, die verstehen lässt, weshalb die Stadt noch weit davon entfernt ist, Europas größte Baustelle zu sein.

WIRTSCHAFT UND ARBEIT. Vom Gang des Wiederaufbaus ist die Erholung der Wirtschaft abhängig. „Das produzierende Gewerbe ist nahe am Zusammenbruch“ sagt der Direktor des Confcommercio Celsio Cioni. „Von 900 Betrieben, die vor dem Erdbeben im Zentrum ansässig waren, haben sich 600 neu orientiert und zwar an der Peripherie“ sagt Cioni weiter. „Im historischen Zentrum haben 31 Geschäfte wieder aufgemacht.“ Besorgniserregend sind die Daten zur Beschäftigung. Die Gewerkschaft CGIL schlägt Alarm zur Lage der cassa integrazione (Ergänzugskasse). „Die Daten zur Inps (  ) vom September“, so der Provinzsekretär Umberto Trasatti „sagen uns, dass 6 Milionen Stunden überschritten wurden, die zu Lasten der cassa integrazione gingen. Dem entsprechen die 3.891 Berufstätigen in Cig (  ). Darüberhinaus sind 1.377 in mobiltà, während weitere 3.729 Personen Arbeitslosengeld beziehen. Will sagen, dass i der Provinz L'Aquila über 9.000 Personen soziale Leistungen erhalten. Von diesen haben 5.000 bereits die Arbeit verloren und die anderen stehen in der Gefahr, sie zu verlieren.“ Ein bisschen Sauerstoff für die produzierende Wirtschaft könnte aus der zona franca (Steuer – Freizone) kommen. Die Europäische Kommission prüft derzeit Papiere und Daten. Dort wird bewertet, ob L'Aquila die Voraussetzungen für Steuererleichterungen für neue Betriebe der produzierenden Wirtschaft erfüllt. Ende des Monats wird das consiglio comunale (Gemeinderat) in Brüssel eine Sitzung abhalten. Eine Dienstreise beschlossen zur Stützung des Antrages, der im Sande zu verlaufen scheint.

DIE ERMITTLUNGEN. Über 200 Ermittlungsverfahren sind bei der Staatsanwaltschft im Zusammenhang mit dem Erdbeben anhängig. Im größten Verfahren wird gegen die Commissione grandi rischi ('Kommission für die großen Gefahren') ermittelt; sie wird beschuldigt, die Bevölkerung trotz der Gefährlichkeit der Erdbeben folgen nur beruhigt zu haben und sie so veranlasst zu haben, in der Nacht des großen Erdbebens in den Häusern zu bleiben. (cr. aq)

Übersetzung und Erläuterungen: B. Pahlmann,




Aus der gleichen Ausgabe des Centro noch ein paar Zahlen (nach dem Vize-Kommissar für die Kulturgüter Luciano Marchetti)

Das kommunale Theater soll Ende 2012 wieder in Betrieb gehen, in neun Monaten die grundlegenden Arbeiten an der Gebäudestruktur abgeschlossen sein. Kosten hierfür: € 1,6 Mio.
Santa Maria di Collemaggio, L'Aquilas schönste Kirche, wo der Papst Coelestin V. Begraben liegt: Die Sicherungsarbeiten sind seit 2009 abgeschlossen, aber der Wiederaufbau ist noch ungewiss, da kein Geld vorhanden ist und € 10 Mio veranschlagt sind.
Porta Napoli soll in vier Monaten wiederhergestellt sein, im nächsten Frühjahr der Palazzetto die Nobili.
Das Castello, die spanische Festung, hat einen Sanierungsbedarf von € 20 Mio., 'gefunden' wurden erst € 500 Tsd.
Die Hauptachse durch die historische Innenstadt ist – nach 2 ½ Jahren – nutzbar.
Am Dom sind die Sicherungsarbeiten abgeschlossen, unsicher hingegen die Zeit der Restauration, da Geld fehlt. Benötigt würden € 12 Mio.